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Schmerzen verstehen

— PhysioWerk

Warum Schmerzaufklärung wichtig ist

Schmerz ist eines der häufigsten Symptome, die Menschen dazu veranlassen, medizinische Hilfe zu suchen. Besonders chronische Schmerzen können das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Insbesondere wenn die Schmerzen nicht durch eine manifeste Pathologie erklärbar sind, kann es dazu kommen, dass Betroffene Schwierigkeiten haben, eine adäquate Behandlung zu erhalten. In solchen Fällen kommt es ggf. zu Stigmatisierung, da ihr Leiden von Außenstehenden – und teilweise sogar von medizinischem Fachpersonal – nicht immer ernst genommen wird.

In der modernen Schmerzforschung wurde erkannt, dass Schmerzen nicht nur eine physiologische, sondern auch eine kognitive und emotionale Dimension haben. Dies bedeutet, dass neben den sogenannten Nozizeptoren unser Gehirn eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Schmerzen spielt. Pain Neuroscience Education (PNE) oder Schmerzedukation gewinnt in diesem Zusammenhang zunehmend an Bedeutung. Ziel ist es, Betroffenen ein besseres Verständnis für ihre Schmerzen zu vermitteln und somit Angst und Fehlüberzeugungen abzubauen. Studien zeigen, dass diese edukative Intervention einen positiven Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung, Beweglichkeit und Lebensqualität haben kann.

Schmerzmechanismen: Wie entsteht Schmerz?

Die International Association for the Study of Pain (IASP) definiert Schmerz als eine unangenehme Sinnes- und Gefühlserfahrung, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht. Entscheidend ist jedoch, dass Schmerz nicht zwingend durch eine Gewebeschädigung verursacht werden muss – er kann auch ohne erkennbare strukturelle Ursache auftreten. Dies ist besonders bei chronischen Schmerzen der Fall.

Zentrale Sensibilisierung

Ein zentrales Konzept ist die zentrale Sensibilisierung, bei der das zentrale Nervensystem überempfindlich auf Reize reagiert. Vereinfacht gesagt kommt es dabei zu einer verstärkten Aktivität erregender Neuronen und einer reduzierten Aktivität hemmender Neuronen. Diese Veränderungen können dazu führen, dass Schmerzen auch ohne eine akute Verletzung wahrgenommen werden. Das bedeutet: Das Gehirn kann Schmerz erzeugen, obwohl keine Gewebeschädigung mehr vorliegt.

Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Phantomschmerz, bei dem Menschen Schmerzen in einem amputierten Körperteil empfinden. Das Gehirn interpretiert weiterhin Signale aus dem nicht mehr vorhandenen Körperteil, wodurch das Schmerzempfinden entsteht. Dieses Phänomen zeigt eindrücklich, dass Schmerz stark von der zentralen Verarbeitung im Gehirn abhängt.

Periphere Sensibilisierung

Zusätzlich spielt die periphere Sensibilisierung eine Rolle. Dabei werden Schmerzrezeptoren in der Peripherie empfindlicher für Reize, wodurch bereits harmlose Berührungen oder Bewegungen als schmerzhaft wahrgenommen werden. Dies geschieht durch eine erhöhte Freisetzung von Entzündungsmediatoren oder eine andauernde Reizung der betroffenen Nerven.

Ein typisches Beispiel für periphere Sensibilisierung bei chronischen Schmerzen ist das Komplexe Regionale Schmerzsyndrom (CRPS). Hier reagiert das Nervensystem in einem bestimmten Bereich des Körpers übermäßig empfindlich auf Reize. Selbst leichte Berührungen oder Bewegungen können starke Schmerzen auslösen, obwohl die ursprüngliche Verletzung bereits verheilt ist. Diese übersteigerte Schmerzreaktion entsteht durch eine anhaltende Erregung der peripheren Schmerzrezeptoren, wodurch sich die Schmerzempfindlichkeit dauerhaft erhöht.

Chronischer Schmerz: Stigmatisierung und Treiber

Chronische Schmerzen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie länger als sechs Monate andauern und ihre ursprüngliche Warnfunktion verlieren. Die betroffenen Personen entwickeln oft Ängste und vermeiden bestimmte Bewegungen aus Furcht vor einer Verschlimmerung. Dies führt zu einem Teufelskreis aus Schmerz, Bewegungseinschränkung und emotionalem Stress.

Da chronische Schmerzen oft nicht durch eine manifeste Pathologie erklärbar sind, erleben Betroffene häufig Stigmatisierung. Diese kann sich auf verschiedenen Ebenen zeigen:

  • Gesellschaftliche Stigmatisierung: Betroffene werden als überempfindlich oder gar simulierend wahrgenommen.
  • Medizinische Stigmatisierung: Aufgrund fehlender objektiver Befunde erhalten Betroffene nicht immer die nötige therapeutische Unterstützung.
  • Selbststigmatisierung: Die Patienten selbst beginnen, an der Legitimität ihrer Beschwerden zu zweifeln, was zu Schuldgefühlen und sozialem Rückzug führen kann.

Diese Stigmatisierung verstärkt oft das Schmerzempfinden, da sie Stress, Unsicherheit und emotionale Belastung mit sich bringt – Faktoren, die nachweislich Schmerzprozesse intensivieren können.

Beispiele für Schmerztreiber sind:

  • Stress und emotionale Belastung: Stresshormone können die Schmerzempfindlichkeit erhöhen.
  • Katastrophisierende Gedanken: Die Überzeugung, dass der Schmerz eine schwere Krankheit bedeutet, kann die Schmerzintensität steigern.
  • Bewegungsvermeidung: Durch die Angst vor Schmerzen wird Bewegung vermieden, was zu Muskelschwäche und weiteren Schmerzen führt.
  • Schlechte Schlafqualität: Ein gestörter Schlaf verstärkt die Schmerzwahrnehmung.

Schmerzedukation in der Physiotherapie

Die klassische biomedizinische Schmerzbetrachtung, die allein strukturelle Ursachen in den Vordergrund stellt, ist nicht mehr zeitgemäß. Vielmehr ist ein biopsychosozialer Ansatz erforderlich, der die Wechselwirkungen zwischen körperlichen, emotionalen und sozialen Faktoren berücksichtigt.

Hier setzt die Schmerzedukation an. Ihr Ziel ist es, das Wissen der Patienten über die Mechanismen des Schmerzes zu erweitern und eine neue Sichtweise auf ihre Beschwerden zu ermöglichen. Ein wichtiger Bestandteil ist die Rekonzeptualisierung von Schmerz – also das Verstehen, dass Schmerz nicht zwangsläufig auf eine strukturelle Schädigung hindeutet. Hier stellt sich in der Therapie die Frage – wo fangen wir überhaupt an?

Fragebögen helfen Glaubenssätzen sowie bewegungs- und schmerzbezogen Sorgen zu erfassen

Um die individuelle Schmerzwahrnehmung und die Überzeugungen der Patienten systematisch zu erfassen, können validierte Fragebögen wie der Neurophysiology of Pain Questionnaire (NPQ-D), die Tampa Scale of Kinesiophobia (TSK) und der Fear-Avoidance Beliefs Questionnaire (FABQ) eingesetzt werden.

  • Der NPQ-D misst, inwieweit Patienten die modernen Konzepte der Schmerzforschung verstehen und anwenden können. Dies hilft, Fehlinformationen über Schmerz aufzudecken und die Therapie gezielt anzupassen.
  • Die TSK erfasst das Ausmaß der Bewegungsangst, das bei chronischen Schmerzpatienten häufig zu Vermeidungsverhalten führt. Hohe Werte deuten darauf hin, dass Patienten körperliche Aktivität meiden, weil sie Angst vor einer Verschlimmerung der Schmerzen haben.
  • Der FABQ misst die angstbedingten Überzeugungen hinsichtlich körperlicher Aktivität und Arbeit. Er hilft zu verstehen, inwiefern Angst vor Schmerz die funktionelle Einschränkung verstärkt und damit den Heilungsprozess behindert.

Durch den Einsatz dieser Fragebögen kann die Therapie individuell angepasst werden, um Fehleinschätzungen zu korrigieren und die Patienten zu einer aktiveren Schmerzbewältigung zu motivieren.

Warum es sich für Betroffen lohnen kann, mehr über Schmerzmechanismen zu lernen

Studien zeigen, dass Schmerzedukation zahlreiche positive Effekte hat:

  • Reduktion der Schmerzintensität: Patienten, die mehr über Schmerzmechanismen wissen, empfinden ihre Schmerzen als weniger bedrohlich.
  • Erhöhung der Beweglichkeit: Die Angst vor Bewegung wird reduziert, wodurch Patienten sich wieder mehr zutrauen.
  • Bessere Bewältigungsstrategien: Patienten entwickeln einen selbstbestimmteren Umgang mit ihren Beschwerden.
  • Reduzierter Medikamentenkonsum: Durch ein besseres Verständnis für Schmerzmechanismen sinkt die Abhängigkeit von Schmerzmitteln.

Schmerzedukation als Schlüssel zur Schmerzbewältigung

Schmerzen sind also mehr als nur ein physiologisches Phänomen – sie sind ein komplexes Zusammenspiel aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Die moderne Schmerzforschung zeigt, dass eine Veränderung der Schmerzüberzeugungen einen erheblichen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung und den Therapieerfolg haben kann. Schmerzedukation kann helfen, Ängste abzubauen, Bewegung zu fördern und die Lebensqualität zu steigern.

Sehen Sie Ihren Physiotherapeuten daher auch als Vermittler von Schmerzwissen und lassen Sie sich aktiv in den edukativen Prozess einbeziehen. Denn wenn Sie verstehen, warum Sie Schmerzen haben, können Sie auch lernen, besser mit ihnen umzugehen.


Weiterführende Literatur

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