
Wenn das Gehirn den Schmerz steuert:
Neue Ansätze bei CRPS
In unserem Blogbeitrag vom 04.02.25 haben wir darüber berichtet, wie Schmerzen entstehen. Dabei haben wir auch kurz das Komplexe Regionale Schmerzsyndrom (CRPS) erwähnt. Heute vertiefen wir das Thema chronischer Schmerzen und werfen einen genaueren Blick darauf, wie moderne physiotherapeutische Ansätze – allen voran die Graded Motor Imagery (GMI) – dabei helfen können, Schmerzen zu lindern.
CRPS ist besonders tückisch: Nach einer Verletzung treten Schmerzen auf, die in ihrer Intensität nicht mit der ursprünglichen Verletzung übereinstimmen. Doch warum passiert das? Und was hat das Gehirn damit zu tun? In diesem Beitrag nehmen wir Sie mit in die faszinierende Welt der Neuroplastizität und zeigen, wie unser Gehirn Schmerz beeinflusst – und wie wir uns diesen Mechanismus therapeutisch zunutze machen können.
Was ist CRPS?
CRPS tritt häufig nach Verletzungen wie Knochenbrüchen oder Operationen auf, kann aber auch ohne erkennbare Ursache entstehen. Betroffene klagen über intensive Schmerzen, die von Begleiterscheinungen wie Schwellungen, Hautveränderungen und Bewegungseinschränkungen begleitet werden. Besonders auffällig ist, dass der Schmerz oft deutlich stärker ist, als es die ursprüngliche Verletzung vermuten ließe.
Ein Beispiel: Eine Patientin verstaucht sich leicht den Knöchel. Während die Verletzung normalerweise nach wenigen Wochen ausheilen sollte, entwickelt sich ein intensiver, anhaltender Schmerz. Das Nervensystem ist überempfindlich geworden und interpretiert harmlose Reize als Bedrohung.
CRPS wirkt sich nicht nur auf den Körper aus, sondern hat auch psychische Auswirkungen. Viele Betroffene entwickeln eine Angst vor Bewegung oder vermeiden bestimmte Aktivitäten aus Furcht vor Schmerzen. Dadurch verstärken sich die Symptome, und ein Teufelskreis aus Schmerz und Schonhaltung entsteht. Genau hier setzt die moderne Physiotherapie an: Sie hilft, den Schmerz zu reduzieren und die ursprüngliche Körperwahrnehmung wiederherzustellen.
Der Trick mit der Gummihand – Wie unser Gehirn Körpergrenzen wahrnimmt
Ein spannender neurologischer Effekt kann helfen, CRPS besser zu verstehen: die Gummihand-Illusion. Dabei wird eine realistische Gummihand so platziert, dass sie wie die eigene aussieht. Während die echte Hand außer Sichtweite liegt, streicht ihr Therapeut, ihre Therapeutin gleichzeitig über die Gummihand und die verdeckte echte Hand. Nach kurzer Zeit entsteht das Gefühl, die Gummihand gehöre zum eigenen Körper.
Was hat das mit Schmerzen zu tun? Das Gehirn nutzt Sinneseindrücke, um eine innere Landkarte des Körpers zu erstellen – eine sogenannte Körperkarte. Diese kann sich verändern, wenn die Wahrnehmung eines Körperteils gestört ist. Genau das passiert bei chronischen Schmerzen: Das Gehirn interpretiert die betroffene Region verzerrt und kann dadurch Schmerzen aufrechterhalten, obwohl die ursprüngliche Verletzung längst verheilt ist.
Graded Motor Imagery (GMI) – Bewegung beginnt im Kopf
Ein vielversprechender Therapieansatz zur Behandlung von CRPS ist die Graded Motor Imagery (GMI). Diese Methode besteht aus drei aufeinander aufbauenden Schritten:
- Links-Rechts-Unterscheidung: Betroffene sehen Bilder von Händen oder Füßen und müssen angeben, ob es sich um die linke oder rechte Seite handelt. Klingt einfach, ist es bei CRPS aber nicht immer. Diese Übung hilft, die gestörte Wahrnehmung des betroffenen Körperteils zu verbessern. Das regelmäßige Training fördert die Reorganisation im Gehirn.
- Bewegungsvorstellung: Hier stellt sich die Patientin oder der Patient vor, wie das betroffene Körperteil bewegt wird – ganz ohne echte Bewegung. Das aktiviert die motorischen Zentren im Gehirn und bereitet sie auf reale Bewegungen vor. Studien zeigen, dass diese mentale Aktivität nicht nur das Vertrauen in den eigenen Körper stärkt, sondern auch die Schmerzintensität senken kann.
- Spiegeltherapie: Mit Hilfe eines Spiegels wird der gesunde Körperteil gespiegelt, sodass es aussieht, als bewege sich der erkrankte. Diese Illusion kann Schmerzen lindern und die Bewegungsfähigkeit verbessern. Der Blick auf das Spiegelbild täuscht dem Gehirn schmerzfreie Bewegung vor und hilft so, die gestörte Schmerzverarbeitung zu normalisieren.
Warum wirkt das? Die Rolle des Homunculus und der Körperkarten
Unser Gehirn speichert eine detaillierte Karte unseres Körpers – den sensorischen Homunculus. Dieses Modell zeigt, wie viel Platz verschiedene Körperregionen im Gehirn einnehmen. Hände und Gesicht sind beispielsweise überproportional groß dargestellt, weil sie besonders viele Sinnesrezeptoren besitzen.
Bei chronischen Schmerzpatient*innen können diese Körperkarten verzerrt sein. Betroffene empfinden ihr schmerzendes Körperteil oft als vergrößert oder fremd. Diese Fehlinformationen im Gehirn tragen dazu bei, dass der Schmerz bestehen bleibt. GMI kann diese Karten reorganisieren und schärfen, wodurch das Schmerzempfinden positiv beeinflusst wird.
Neuroplastizität – Die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des Gehirns
Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Neuroplastizität – die Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen und zu verändern. Neuronale Netzwerke sind nicht statisch, sondern passen sich an neue Erfahrungen an. Dies geschieht durch das Bilden, Verändern oder Verstärken von Verbindungen zwischen Nervenzellen, den sogenannten Synapsen.
Bei CRPS sind die neuronalen Muster im Gehirn gestört. Schmerzen, die ursprünglich als Schutzmechanismus dienten, bleiben bestehen, obwohl die eigentliche Verletzung längst ausgeheilt ist. Die GMI-Therapie nutzt diese Plastizität gezielt: Durch mentale Übungen und sensorische Reize werden neue, schmerzfreie Bewegungsmuster im Gehirn angelegt. Studien deuten darauf hin, dass diese Methode die Schmerzwahrnehmung verändern und die Lebensqualität von Betroffenen verbessern kann.
Interessanterweise kann Neuroplastizität nicht nur negative Veränderungen hervorrufen, wie bei chronischen Schmerzen, sondern auch positiv genutzt werden. Durch gezielte Therapien wird das Gehirn regelrecht trainiert, den Schmerz zu „verlernen“ und eine gesunde Körperwahrnehmung wiederherzustellen.
Alltagstipps für Betroffene
Neben der Therapie gibt es einige Tipps, die den Umgang mit CRPS im Alltag erleichtern können:
- Bewegung trotz Schmerz: Schonende Bewegungsübungen halten die Muskulatur aktiv und verhindern Versteifungen.
- Achtsamkeitstraining: Entspannungstechniken wie Meditation helfen, den Stresspegel zu senken und das Schmerzempfinden zu verringern.
- Temperaturreize nutzen: Wechselbäder können helfen, die Durchblutung zu fördern und das Nervensystem positiv zu beeinflussen.
Fazit: Hoffnung durch moderne Therapie
Chronische Schmerzen sind komplex, aber moderne physiotherapeutische Ansätze wie die Graded Motor Imagery bieten neue Hoffnung. Unser Gehirn ist formbar und kann auch nach langer Schmerzgeschichte wieder lernen, den Körper korrekt wahrzunehmen – und den Schmerz loszulassen.
Wenn Sie mehr darüber erfahren oder eine individuelle Beratung möchten, sprechen Sie uns gerne im PhysioWerk in Soest an.
Für die besonders Interessierten:
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